Schulthess Klinik: Spitalchefin Andrea Rytz wirbelt mit ihrem Führungsstil und Ehrgeiz Staub auf, nicht nur intern.
(Quelle: BILANZ, 02 – 2023)
Andrea Rytz, Präsidentin Verein Gesundheitscluster Lengg & CEO Schulthess Klinik. (Quelle: BILANZ)
Renommiert und effizient
Die Schulthess Klinik ist auf Orthopädie spezialisiert und die Nummer eins in der Rangliste «Beste Fachkliniken der Schweiz 2023» von «Handelszeitung» und Statista. Und auf Platz sechs im Ranking «World’s Best Specialized Hospitals 2022» des US-Nachrichtenmagazins «Newsweek». Sie gehört der Wilhelm Schulthess Stiftung, ist aber keine Privatklinik, sondern steht auf der Spitalliste. Für Managerin Rytz heisst das, dass sie ein Ebitda von zehn Prozent erwirtschaften muss. So verlangt es die Gesundheitsdirektion. Schwierig? «Man muss sich anstrengen», sagt sie, «in der Medizin liegt das Geld in den Prozessen und das verschwendete in der Regel in den Prozessstrukturen.» Seit sie vor sieben Jahren hier angetreten ist, wurden sämtliche Abläufe analysiert, «in der Tiefe neu gedacht» (Rytz) und neu gestaltet.
So wird zum Beispiel nicht mehr einfach jedem Patienten vor der Operation ein Schmerzkatheter gelegt. Bei Bedarf eruiert ein Schmerzteam, was im konkreten Fall hilft. Anderes Beispiel: Patienten werden in der Schulthess Klinik nicht mehr im Bett in den Operationssaal geschoben, sondern gehen zu Fuss hin. Zwei Stunden nach dem Eingriff wird aufs neue Hüftgelenk gestanden: Festzustellen, dass es hält, fördert das Zutrauen, beschleunigt die Heilung. Zahllose kleine Anpassungen wie diese zahlen sich aus. Weniger Personal, mehr Betten, kürzere durchschnittliche Verweildauer, mehr ambulante Konsultationen. Rytz’ Fazit: «Dank dem, dass wir die Prozesse beherrschen, sind wir hocheffizient geworden.»
Als Stiftung ist die Schulthess Klinik nicht gewinnorientiert, schüttet keine Dividenden aus. Aber sie leistet sich 34 Forscherinnen und Forscher. Das nicht zuletzt, um Spitzenplätze in Rankings zu verteidigen. «Dazu gehört eine anständige Forschung und nicht nur eine reine Operationstätigkeit», sagt Stiftungspräsident Franz K. von Meyenburg.
2021 wurden in den hochmodernen Operationssälen der auf Orthopädie spezialisierten Schulthess Klinik 9641 Operationen durchgeführt. (Quelle: reportair.ch)
«Wir sind eine Fabrik»
Das Forschungsspektrum ist breit, reicht von der sogenannten Outcome-Forschung, bei der Behandlungserfolge aus Patientenperspektive untersucht werden mit dem Ziel, sich zu verbessern, bis zur Grundlagenforschung. Operativ bietet die Schulthess Klinik die Fachgebiete Chirurgische Orthopädie, Spinale Neurochirurgie, Neurologie, Rheumatologie, Manuelle Medizin – und Sportmedizin. Alles in allem ist sie ein Grossbetrieb, Rytz sagt, «wir sind eine Fabrik». Ihre Zahlen von Ende 2021: 1131 Mitarbeitende, 9641 Operationen, 131’438 ambulante Konsultationen, 197 Millionen Franken Umsatz. Zehn Prozent Ebitda sind dank einem vergleichsweise hohen Anteil von Privat- und Halbprivatversicherten (rund 50 Prozent) gemäss Rytz machbar. Geschafft hat sie es bislang nicht, war 2021 mit 9,3 Prozent nahe dran, die Schlussrechnung 2022 steht noch aus.
Rytz strebt drei Prozent Wachstum pro Jahr an. Die Stellschrauben, um das hinzubekommen, sind neben der Optimierung der Prozesse das Design der Fachbereiche. Was, wie, wo wird am Konferenztisch in ihrem Büro entschieden von der ganzen Direktion, die by the way nicht mehr aus lauter Männern besteht wie vor Rytz, sondern aus vier Frauen und zwei Männern. «Dinge im Konsens zu regeln, macht sie echt gut», sagt Michael Leunig, der als Chefarzt Hüftchirurgie und Chief Medical Officer im sechsköpfigen Leitungsteam schon rein berufshalber einen anderen Fokus hat als Rytz, «sie hat jeweils einen Standpunkt, lässt aber mit sich reden, hört zu.» Das, so Rytz, verstehe sie unter «Kommunikation sicherstellen» und das wiederum sei eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Und ist offenbar ihre Stärke: «98 Prozent der Entscheide, die fürs Unternehmen getroffen werden, fällt das Gremium», sagt sie. Dass sie sich querstelle, komme sehr selten vor, dass sie Entscheide ihres Gremiums kippe, nie.
Ihr Augenmerk liegt auf der Wirtschaftlichkeit. «Wir machen keine hochexperimentelle Chirurgie», so die Managerin, «sondern Chirurgie, von der wir wissen, dass sie einen guten Output hat.» Am besten rentieren derzeit Eingriffe an Knien und Hüften, «sie sind unsere Blockbuster, die Abteilung unsere Cashcow». Andere Bereiche zehren davon. Ambulante Operationen zum Beispiel kosten in der Regel mehr, als sie einspielen. Erträge sind mitunter Verhandlungssache: Die Preise pro Patient und Eingriff verhandelt jedes Spital selbst mit den Krankenkassen. «Da geht es zu und her wie auf einem Basar», sagt Rytz, auch mit Bewunderung für ihre Finanzchefin, «sie ist pickelhart. Hätte ich sie nicht, hätte ich nicht so gute Preise.» Einmal geeinigt, bleiben die Preise bis zur nächsten Verhandlungsrunde fix – auch wenn die Stromkosten plötzlich explodieren. Rytz lächelt. «Wir haben letztes Jahr bis 2024 eine Flatrate basierend auf dem Durchschnitt der letzten drei Jahre ausgehandelt», sagt sie, «aus heutiger Sicht ist das ziemlich cool.» Der Deal war keine Voraussicht, sondern Vorsicht, eine Folge der Corona-Krise: «Ich wollte nicht noch einmal einen Kostenblock, der für mich volatil ist.»
Gefordert und gefördert
Rytz ist heute da, wo sie immer hinwollte. Sie kommt von ganz unten: Ihre Berufskarriere begann sie als Auszubildende in der Röntgenabteilung des Inselspitals Bern. Sagt, dort habe sie nicht nur das Handwerk gelernt, sondern eine erste wichtige Lektion für ihre weitere Karriere: «Sich abgrenzen.» Sie nimmt einen Schluck Wasser, kramt in der Erinnerung – und erzählt dann eine Anekdote nach der anderen. Zum Beispiel die von ihrem Vorgesetzten am Universitätsspital Zürich (USZ), wohin sie mit 21 wechselte. Er wollte von ihr wissen, wo sie sich in fünf Jahren sehe. Ihre Antwort: «Das weiss ich nicht, aber irgendwann werde ich Spitaldirektorin sein.» In der Folge erhielt sie Aufgaben, bei denen sie über sich hinauswachsen musste. Er forderte sie, sie fühlte sich gefördert. Ihr nächster Chef auf dem Notfall des USZ war «ein Professor alter Schule». Der erwartete nicht nur aussagekräftige Röntgenbilder, sondern – «Rytz, was sehen Sie!?» – dass sie beschreibt, diagnostiziert und dann ein Vorgehen entscheidet. «Ich habe gelernt, nicht nur das Offensichtliche zu sehen, sondern auch zu entscheiden, was wichtig ist», sagt sie, legt die beiden Handflächen aufeinander und sagt, «ewig dankbar.» Mit 27, als Leiterin Radiologie in der Klinik Im Park, war sie schliesslich Chefin von 30 Mitarbeitenden und einem Chefarzt unterstellt, der kaum je nett war. «Damit kann ich inzwischen umgehen», sagt sie und schliesst mit der Bemerkung, eine Frau zu sein, sei auf ihrem Weg stets ein Vorteil gewesen, den sie auch zu nutzen verstanden habe. Sie erzählt das, ohne mit der Wimper zu zucken. Den fragenden Blick pariert sie mit «attraktiv zu sein, ist ja nicht mein einziger USP».
Inselspital Bern, USZ, Klinik Im Park, dann zurück ans USZ, wo sie die Abteilung übernimmt, in der sie einst angefangen hatte. Es gefiel ihr nicht mehr. Ein Jahr später ist sie wieder in der Klinik Im Park, diesmal in der Geschäftsleitung. Der damalige Klinikdirektor, Nicolaus Fontana, nahm sie mit Handkuss zurück. «Sie ist fachlich wie menschlich kompetent», sagt er, «zudem unkompliziert, offen, pragmatisch und vorwärtsgerichtet.» Rytz – «der Jobwechsel allein reichte mir dann aber nicht» – absolviert nebenberuflich erst einen Master in Health Service Management und dann noch einen in Business Administration. So landet sie im Talentpool der Hirslanden-Gruppe und platziert abermals ihre Ambition: «Ich will ein Spital leiten.» Man übergibt ihr, inzwischen 39 Jahre alt, die Verantwortung in der Klinik Belair in Schaffhausen. Diese war damals in Besitz der Hirslanden-Gruppe, heute ist sie Teil der Swiss Medical Group.
«Spinnst du?»
Die Privatklinik mit 28 Betten war ein Sanierungsfall und nach vier Jahren Rytz zurück in der Gewinnzone und Rytz’ Profil um eine weitere Kante geschärft: «Ich habe gelernt wie mit Ärzten umgehen und verhandeln, damit es ein Miteinander gibt.» Bis heute hat sie dafür Bewunderer: «Andrea hat in kurzer Zeit den Turnaround geschafft», erzählt Adrian Staub, dannzumal Ärztepräsident im Belair. Sein Respekt gilt insbesondere der Art und Weise, wie Rytz führt: «Sie kann sehr gut mit Menschen umgehen, sie einbeziehen und sie für sich einnehmen.» Ihr selbst hat es in der kleinen Klinik so gut gefallen, dass sie überlegt hat, der Hirslanden-Gruppe das Spital abzukaufen. Als die Anfrage kommt, ob sie sich nicht als Direktorin der Schulthess Klinik bewerben will, sagt sie Nein. Der Belair-Chefarzt, der das mitbekommt, sagt: «Spinnst du?» Sie bewirbt sich, bekommt den Job.
Auf die Frage nach der härtesten Lektion in ihrer Karriere antwortet sie: «Dass Ideen, die ich spannend finde und bei denen ich Chancen sehe, Angst und Widerstand auslösen.» Ideen hat sie ständig, «sie fliegen mir zu», sagt sie, schnippt mit den Fingern, «hier eine, dort eine», legt die Hände zurück auf die Tischplatte und zuckt die Schultern: «Die Herzen fliegen mir nicht immer so schnell zu, wie ich das gern hätte.» Deshalb liegt sie ihrer Entourage mit Ideen nicht mehr in den Ohren, sondern streut sie beiläufig ein, auf dass sie in deren Köpfe hineinwachsen, als wären es ihre eigenen. Ihre Ideen zu verschenken, kostet Rytz ein Lächeln, «Hauptsache, es geht was. Der Zweck heiligt die Mittel.»
Ein Thema, das Rytz sich auf die Fahne geschrieben hat, sind Kooperationen mit Mitspielern. Dass jede Klinik das Rad selbst erfindet und nach aussen mauert, findet sie «idiotisch», sagt, «man bildet sich viel zu viel auf sich und sein Know-how ein». Ausgedeutscht: Patienten gehen dorthin, wo sie eine gute Erfahrung gemacht haben oder wo der Arzt sie hinschickt. Personal geht dorthin, wo am besten bezahlt wird.
Apropos: Aktuell fehlen in der Schweiz rund 13’500 Pflegekräfte und Ärzte. Bis 2030 schwillt die Zahl auf 32’500 an. Für 2040 prognostiziert eine Studie von PwC 45’000 unbesetzte Stellen, 5500 bei den Ärztinnen und Ärzten, 39’500 beim Pflegepersonal. Die Malaise verwundert nicht: Pflegekräfte, so die Klagen des Berufsverbands, sind schlecht bezahlt, haben schlimme Arbeitsbedingungen, werden nicht wertgeschätzt. Welcher junge Mensch fühlt sich von so etwas schon angelockt?
Handeln statt jammern
Rytz, man ahnt es, will auch da gegensteuern. Seit Anfang Jahr ist sie Präsidentin beim Branchenverband für Berufsbildung im Gesundheitswesen OdA. «Man muss sich engagieren, kann nicht immer jammern.» Man darf gespannt sein, was sie mit ihrer Methode – Analyse, in der Tiefe neu denken, neu gestalten – bewirkt.
Aber zurück zu ihrem Streben nach mehr Kooperation. Dahinter steckt ihre Überzeugung, «nur miteinander wird es gehen, es gibt keine Zukunft, wenn jedes Spital ein Stand-alone ist».
Kantonal verordnet, müssen sich die acht Kliniken, die oben im Balgrist nur je einen Steinwurf voneinander entfernt liegen, zusammenraufen und Infrastruktur- und Bauvorhaben miteinander koordinieren. Der dafür gegründete Verein heisst Gesundheitscluster Lengg, präsidiert wird er von Rytz. «Wir haben inzwischen gelernt, miteinander zu reden.» Fürs Erste über Synergien «in Themen, die mit dem Kerngeschäft an sich nichts zu tun haben».
Für Rytz ein Anfang. «Man lernt, sich zu vertrauen», sagt sie, «in der nächsten Generation geht es vielleicht dann auch mal ans Eingemachte wie an ein gemeinsames Lager für Instrumente.» Oder an einen Zusammenschluss für Preisverhandlungen mit Lieferanten und Krankenkassen.
Bleibt die Frage nach ihrem eigenen Fortkommen. Vom Lehrling im Inselspital bis zur Direktorin der Schulthess Klinik gibt es einen roten Faden: Rytz hat jeden Schritt in ihrer Karriere in grossen Schuhen begonnen und ist jeweils in diese hineingewachsen. Als erfolgreich will sie nicht bezeichnet werden, «Erfolg war nie mein Ziel», behauptet sie. Was sie anstrebe, sei Respekt für ihre Arbeit. Den hat sie von allen Seiten, auch von innen: «Sie ist sicher eine der talentiertesten CEOs in der Branche», sagt Leunig. Sieben Jahre ist sie nun in der Schulthess Klinik. Demnächst wird im USZ – 40’000 stationäre Patienten im Jahr, 8400 Mitarbeitende – der CEO-Posten frei. Es wäre ein Paar Riesenschuhe. Darauf angesprochen, sagt Rytz für einmal nichts. Und damit viel.
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Gemeinsam statt einsam
Am Stadtrand über dem rechten Zürcher Seebecken entwickelt sich eine der grössten Spitallandschaften Europas, die Lengg. Sie ist für Zürich volkswirtschaftlich bedeutsam, 1,3 Milliarden Franken Umsatz, über 9000 Jobs. Acht Kliniken liegen nah beieinander, darunter die Universitätsklinik Balgrist, die Klinik Hirslanden und die Schulthess Klinik – alle mit Ausbauplänen. Zwecks Koordination erstellte der Kanton 2017 einen Masterplan, die Kliniken schlossen sich zum Verein «Gesundheitscluster Lengg» zusammen. Das erklärte Ziel heisst «Gemeinsam statt einsam». Im Vordergrund stehen die nachhaltige Bewirtschaftung der Infrastruktur im Gebiet der Lengg, eine geordnete Entwicklung, die gemeinsame Nutzung künftiger Synergien. Auch Wissenstransfer und Kooperation bei medizinischen Dienstleistungen stehen auf der Bucket List. Bis dahin, so Präsidentin Andrea Rytz, sei der Weg aber noch weit. «Immerhin haben wir gelernt, miteinander zu reden.»
Im Jahr 7 seines Bestehens wird eine neue Buslinie eingeführt, eine vorhandene verlängert. Zudem beginnt der Verein nun mit den Bauarbeiten zur Umsetzung eines echten Gemeinschaftsprojekts: Bis in etwa fünf Jahren werden die Members ihre Häuser im Winter mit Wasser aus dem Zürichsee heizen und im Sommer kühlen. Damit lassen sich bis zu 10’000 Tonnen CO2-Emissionen pro Jahr einsparen. Budget: 90 Millionen Franken.